Die „Ja – und“-Methode: DEin simples Tool für kreative Entfaltung
Eines der Grundprinzipien des Improvisationstheaters ist die ‚Ja – und‘-Regel. Was sie bedeutet und wie sie dir – abseits des Theaters – dabei helfen kann, Ideen zu entwickeln, Projekte zu verwirklichen und Herausforderungen kreativ zu meistern, erfährst du in diesem Artikel.
Flexibel und frisch
Schauspieler*innen durchlaufen, bevor sie beginnen, an konkreten Rollen zu arbeiten, eine Art ‚Grundausbildung‘: Sie lernen das Handwerkszeug, das sie später benötigen, um auf der Bühne glaubhaft eine andere Person darstellen zu können – um auf ihre Spielpartner*innen reagieren zu können, um Spannungsbögen zu erarbeiten und in Szenen gleichzeitig flexibel und ‚frisch‘ agieren zu können. Aus diesem Grund sind Improvisations- bzw. Theatersportklassen ein fixer Bestandteil jedes Ausbildungsstundenplans für angehende Schauspieler*innen. In diesen Klassen geht es nicht darum, einen vorgegebenen Monolog einzustudieren oder an einem fertigen Stück zu arbeiten. Sondern die Schauspieler*innen werden sozusagen ins kalte Wasser gestoßen: Sie stehen auf der Bühne und starten spontan eine Szene, die sich nach und nach zu einer ganzen Geschichte entwickelt – und zwar ohne, dass irgendjemand zu Beginn weiß, was passieren wird.
Um den Prozess anzuregen, gibt es im Improvisationstheater unzählige sogenannte ‚Spiele‘. Beispielsweise kann das Publikum Worte hineinrufen, die Namen von Personen vorschlagen oder den Ort einer Szene bestimmen. Oder es wird im Vorhinein festgelegt, dass die folgende Szene einen bestimmten Titel haben soll (zum Beispiel: ‚Der ungebetene Gast‘ oder ‚Das grüne Geheimnis‘…). Usw. Die Schauspieler*innen auf der Bühne sind dann aufgefordert, den Input anzunehmen und sofort loszustarten, um daraus eine Szene entstehen zu lassen.

Reinspringen und loslegen
Du kannst dir sicher vorstellen, dass es bei solchen Improvisationsspielen nicht funktioniert, wahnsinnig lange darüber nachzudenken, was denn nun Sinn machen würde – mit welchem Satz man die Szene eröffnen sollte, oder was die andere Person wohl sagen würde, wenn man nun diesen oder jenen Vorschlag macht. Genau das Gegenteil ist der Fall: Zu langes Nachdenken ist der Killer für die Geschichte, die sich entwickeln möchte.
Stattdessen ist das Motto: Reinspringen und tun! Keine Angst vorm Scheitern! Und vor allem: kein zu langes Bewerten!
Damit solche spontanen Szenen funktionieren und sich weiterspinnen können, ist es wichtig, dass die auf der Bühne stehenden Schauspieler*innen zusammenarbeiten. Einzelkämpfer*innen und Selbstdarsteller*innen werden im Theatersport nicht gerne gesehen. Denn damit eine Szene rund wird, braucht es Achtsamkeit und ein Gespür für die gemeinsam erschaffene Geschichte. Aus diesem Grund ist die oberste und wichtigste Regel im Improvisationstheater die ‚Ja – und‘-Regel.
‚Ja – und‘
Sie besagt, dass jedes Angebot, das von einem bzw. einer der Darsteller*innen gemacht wird, von den anderen angenommen und weiterentwickelt werden muss. Wenn beispielsweise in der Szene ‚Der ungebetene Gast‘ die erste Schauspielerin ruft: „Opa! Was machst du denn hier? Du wolltest doch erst morgen kommen!“, dann wird der von ihr angesprochene Schauspieler seine Rolle als ‚Opa‘ annehmen und nicht sagen: „Nein, ich bin nicht Opa, ich bin der Friseur von nebenan.“ Oder wenn ein Schauspieler den Ort und die Tageszeit der Szene etabliert, indem er sagt: „Boah, ich habe ganz vergessen, wie dunkel es nachts im Park ist“, wird seine Spielpartnerin nicht sagen: „Aber es ist doch 12 Uhr mittags!“
Das bedeutet: Im Improvisationstheater werden alle Angebote sofort von allen sich auf der Bühne befindlichen Schauspieler*innen angenommen. Ein Angebot anzunehmen bedeutet dabei nicht immer, sich zustimmend zu verhalten. ‚Opa‘ kann zum Beispiel auch sagen: „Du sollst mich doch nicht immer so nennen, ich fühle mich noch lange nicht wie ein Opa…“ Dennoch hat er das grundsätzliche Spielangebot angenommen – bejaht – und danach weiterentwickelt. Danach gibt die Spielpartnerin wieder etwas zurück, indem sie das neue Angebot bejaht („Entschuldige Opa. Ähm. Oh. Ich meine natürlich, entschuldige Hans-Heinrich.“…) usw.

Von der Bühne ins Leben
Auf diese Weise entwickelt sich nach und nach eine Szene, Charaktere werden erschaffen, der Ort wird erkennbar (selbst, wenn sich keine Requisiten im Raum befinden) und Probleme werden erschaffen und gelöst. Erfahrene und routinierte Impro-Darsteller*innen können schon mal dreißig Minuten oder länger improvisieren, ohne, dass ihnen die Ideen ausgehen oder dem Publikum langweilig wird. Weil sie gelernt und geübt haben, sich voll in die Szenen einzulassen und sie gemeinsam zu gestalten. Weil sie verinnerlicht haben, Angebote anzunehmen und weiterzuentwickeln.
Dieses ‚Annehmen und Weiterentwickeln‘ kann jedoch nicht nur auf der Bühne angewendet werden, um Szenen zu erschaffen, sondern es kann dir als Grundprinzip auch dabei helfen, deine eigenen, kreativen Projekte abseits der Bühne zu verwirklichen. Und zwar auf unterschiedliche Weise.
Variante 1:
Ich habe eine Idee – ‚Ja – und‘
Zunächst einmal, indem es dir dabei hilft, deine kreativen Grundideen anzunehmen und zu bejahen. Denn sehr oft kommt es vor, dass wir unseren eigenen Ideen und Träumen nicht vertrauen, ihnen zu wenig Gewicht geben, sie gleich als ‚unrealistisch‘ bezeichnen oder schon tausend gedankliche Hürden drumherum errichten, bevor wir uns überhaupt die Gelegenheit geben, uns Dinge wirklich auszumalen. Wenn du also eine Projektidee hast (egal, ob du schon damit begonnen hast, sie umzusetzen oder nicht), dann wende einmal die ‚Ja – und‘-Methode darauf an:
🖋 Gib dir 10 Minuten (du wirst staunen, wie lang 10 Minuten sind, wenn du dich wirklich darauf einlässt) und bejahe deine
Idee zu 100%. Nimm dir ein großes Blatt Papier und schreibe dir alles auf, was dir einfällt, wenn du zu allem ‚Ja‘ sagst: „Ich
möchte ein Modelabel gründen“, „Ich würde nachhaltige Hosen und Shirts vertreiben“, „Ich könnte nachhaltige
Produktionsfirmen in Europa recherchieren“, „Ich muss mir überlegen, wie ich einen Online-Shop aufbaue“, „Ich könnte meine
Kollegin fragen, die kennt da jemanden, der…“ Annehmen und weiterentwickeln. 10 Minuten lang.
Es geht nicht darum, zu bewerten, ob deine Ideen gut oder schlecht, umsetzbar, praktikabel, realistisch, zu teuer, zu wahnwitzig oder oder oder sind. Mit der ‚Ja – und‘-Methode beginnst du erst einmal nur damit, sie ernst zu nehmen und sie weiterzuentwickeln. Bewerten und sortieren kannst du später. (Darin ist unser Hirn sowieso Meister. Das musst du nicht extra üben.) Dann lass deine Ideensammlung einfach liegen. Am besten offen – sodass du noch die nächsten Stunden oder Tage daran vorbeigehen kannst. Oder kleb‘ das Blatt an die Wand. Lass dich davon inspirieren und schau, welche neuen Ideen in der kommenden Zeit in dir aufsteigen. (Bejahe auch diese. Eh klar.)
Variante 2:
Ich stehe vor einer Herausforderung – ‚Ja – und‘
Auch, wenn du in deinem kreativen Projekt gerade an einer Stelle anstehst – oder eine berühmte ‚kreative Blockade‘ hast – kann dir die ‚Ja – und‘-Methode weiterhelfen. Bei den meisten von uns ist ja die Erstreaktion auf eine Hürde oder Herausforderung: „Na toll. Ich sollte es gleich lassen. Schon wieder macht mir [Umstand XYZ einsetzen] einen Strich durch die Rechnung. War ja klar, dass das wieder mir passiert. Ich werde das nie lösen." Blabla. Lala. Und so weiter. (Wir alle kennen solche Gedanken, oder?) Was wir damit machen, ist, in einen Widerstand mit der Hürde bzw. der Blockade zu gehen. Die ist allerdings eh schon da. Also können wir sie auch gleich bejahen. Das ist leichter gesagt als getan. Aber einen Versuch wert:
🖋 Wenn du gerade eine kreative Blockade hast bzw. vor einer Herausforderung stehst, für die du noch keine Lösung hast,
gib dir ebenfalls 10 Minuten. Schreib auf ein großes Blatt Papier, was das Problem ist: „SCHREIBBLOCKADE!!!!“, „Mir fällt
nichts ein, mir fällt nichts ein, mir fällt nichts ein.“ Dann bejahe genau das innerlich und schreib weiter. Egal, was aus dir
rauskommt: „Da ist ein Schwein, mir fällt nichts ein, da ist ein Schwein“, „Kann dieser Reim des Rätsels Lösung sein?“ (Das
war jetzt ein spontaner Erguss von mir, zugegeben.) Aber auch hier geht es nicht darum, das, was aus dir rauskommt, zu
bewerten. Es muss weder Sinn ergeben noch dein Problem lösen, sondern es soll dich wieder in einen Fluss bringen.
Vielleicht musst du lachen, oder du willst malen, oder irgendwas auf das ‚Blockaden-Papier‘ kleben. Vielleicht fällt dir ein,
dass du jemanden anrufen könntest, etwas in einem Buch nachschlagen willst oder deine Kinder mitmalen lassen möchtest.
Vielleicht schreibst du eine Kostenkalkulation auf oder notierst etwas aus einem Zeitungsartikel, den du kürzlich gelesen
hast.
Was immer deine spontanen Eingebungen sind: Folge ihnen für 10 Minuten. Dann häng auch dieses ‚Werk‘ an die Wand oder lass es ein paar Stunden – oder besser noch Tage – offen liegen. Indem du es immer wieder ansiehst, ergänzt, davor stehst, was darunter und darüber schreibst, zeigst du deinem Gehirn, dass die ‚Blockade‘ nicht endgültig ist, sondern auf kreative Art und Weise gelöst werden kann. Und zwar durch Annehmen und Weiterentwickeln.
Fällt dir schon ein Projekt oder eine Herausforderung ein, der du mit der ‚Ja – und‘-Methode begegnen möchtest? Sag mir gerne, was dabei herausgekommen ist! Ich freue mich!
Bis bald bei den nächsten Impulsen für ein kreatives Leben
Deine Edith